Werten oder nicht werten- oder der Umgang mit unserem Gehirn…

 

Unsere schnelle digitale Welt erfordert ein schnelles Denken und ein ebenso schnelles Handeln- schnell zu Wissen, was man braucht- Ja/ Nein, möglich/nicht möglich/unmöglich- solches Wissen scheint unser Überleben zu sichern. Es scheint so, als ob uns die digitale Welt eine digitale Entscheidungsform aufzwingt- je schneller desto besser und erfolgreicher- doch stimmt das? Sichert es uns wirklich etwas, und wenn ja was? Und wollen wir das?

 

Wie läuft das Werten in uns eigentlich ab?

 

Hilfreich ist es zu wissen, das es in uns eine Instanz gibt, die sich dem, was uns begegnet entweder zuwendet oder abwendet. Das geschieht ganz automatisch, sehr schnell und unbewusst in den tieferen Regionen unseres Gehirns. Diese Region unseres Gehirns ist beispielsweise auch mit dem Herzen verbunden, was dafür sorgt, das unsere Gliedmaßen schnell mit Blut versorgt werden, falls wir zur Not fliehen müssten, angreifen oder in Starre verfallen. All diese Prozesse waren vor ein paar Millionen Jahren absolut notwendig, ein Säbelzahntiger kam meist überraschend und wollte keine Diskussionen, sondern seine Bedürfnisse stillen- sehr zu unseren Ungunsten.

 

Unser Überleben hing davon ab, wie schnell wir die Entscheidung treffen konnten, was nun zu tun war. Diejenigen, die erfolgreich und schnell waren, kamen mit dem Leben davon und waren unsere Ur-Ur-...-Urahnen. 

Solche offensichtlichen Bedrohungen sind selten geworden. Heute kommen die Säbelzahntiger, die unser Leben hier, in der westlichen Welt bedrohen meist in harmloserer Form daher. Was uns heute gefährden kann ist viel subtiler. Essgewohnheiten, Freizeitgewohnheiten, Diskriminierungs-gewohnheiten- all diese erlernten und auch unserer Kultur eigenen Musterhaftigkeiten gefährden unser Leben meist viel unterschwelliger. Ob ich beispielsweise Abends zur Entspannung fernsehe oder nicht ist meist erlernt. Ob ich mir daneben noch ein Bier und Chips gönne, ist meist ebenso erlernt.

Wenn wir das aber lassen wollen, wird es schon schwieriger. 

 

Für solche komplexeren Herausforderungen hat uns die Evolution eine weitere Struktur in unserem Gehirn mit auf den Weg gegeben- eine weitaus diplomatischere Struktur, die sich mit dem „Hier und Jetzt“ auseinandersetzen kann. Diese Struktur braucht enorm viel Energie und ermüdet leicht. Sie springt aus ökonomischen Gründen daher vor allem dann an, wenn wir komplexere Themen lösen müssen (beispielsweise schwierige Rechenaufgaben lösen oder uns eine neue Verhaltensweise aneignen). 

 

Diese Struktur, also den „Diplomaten“ in uns, bewusst anzusteuern bedeutet, sich selbst auf die Schliche kommen zu wollen. Denn eigentlich wollen wir „automatisiert“ mit den Themen umgehen- diese „Komfortzone“ ist für uns leicht, schnell und verbraucht am wenigsten unserer Energie. Abends gewohnheitsmäßig den Fernseher anschalten kostet uns wenig Mühe. Uns aber eine neue Möglichkeit auszudenken, uns herauszufordern, etwas anderes auszuprobieren, dagegen schon.

Bewerte ich etwas, ohne bewusst nachzudenken, bin ich im „Automaten“. Das hilft mir weniger, wenn ich etwas ändern will. Meist fühlt sich die Gewohnheit dummerweise auch noch viel besser an- das Ungewohnte werte ich als fremd und komisch. Doch genau das ist jetzt unsere Hilfestellung. Denn das was sich „komisch“ anfühlt, ist meist neu und genau das zeigt mir, das ich in meinem Lernprozess bin.

 

Will ich etwas verändern, ist es am Besten, wenn ich eine neutrale Position zu dem Thema habe. Ich kann beispielsweise beobachten, wann ich besonders gerne fernsehe, Bier trinke, rauche oder ähnlichen Säbelzahntiger- Automatismen begegne. Was genau führt dazu? Was nicht? Wann wird es schwer, wann ganz leicht das zu lassen, wann fast unmöglich? Was gibt mir ein ähnliches Gefühl und hat vielleicht weniger Nebenwirkungen? 

 

Nehme ich das, was mir begegnet erst einmal an, ohne es zu werten, habe ich nämlich den „Diplomaten“ in mir aktiviert. Ich nehme es erstmal neugierig zur Kenntnis, sammle weitere Daten in Form von Beobachtungen, um dann entweder eine Meinung oder, im oberen Fall, eine Alternative zu entwickeln oder immer noch keine zu haben. 

Diese Möglichkeit des bewussten Entscheidens, erst einmal keine Wertung zu haben, kann zu einer Verlangsamung führen. In manchen Fällen kann durch die Zeit zwischen dem, was uns begegnet und dem, was wir beobachten (ohne gleich zu handeln) etwas aus unserem inneren Erfahrungswissen auftauchen, an was wir nicht gedacht haben. 

 

Genau dieses sich Auseinandersetzen mit einer Frage, und nicht sofort zu handeln, kann zu genaueren Antworten führen. Möglicherweise gibt uns ein anderer Mensch einen Impuls, an den wir nicht gedacht haben. Wir alle sind dann Teil einer Antwort, die sich durch genaueres Zuhören auf anderen Ebenen ergeben kann.

 

Trotz allen Wissens sich also den Blick eines neugierigen Kindes zu erlauben, also ohne Voreingenommenheit zunächst zu schauen, kann ein Gegengewicht bieten, in dieser immer schneller werdenden Welt. Mit der Erlaubnis, nicht gleich werten zu müssen, es nicht gleich wissen zu müssen, kann das Diktat des Zeittaktes zu einem eigenen Rhythmus werden, der sich an meinen eigenen Bedürfnissen ausrichtet. Ich kann so bewusster handeln und achtsamer im Entscheiden werden. 

Wenn wir dann eine Alternative entwickelt haben, diese dann auch gegen unser Wohlbefinden länger geübt haben (statt Fernsehen einen langen Waldspaziergang in Sommer, einen besonderen Tee und ein gutes Buch im Winter), kann sich allmählich ein neuer „Automatismus“ entwickeln. Ich werde oft gefragt, wie lange sowas geht, von der Absicht einer Verhaltensänderung, bis zur tatsächlichen neuen Umgangsform- da finde ich die Angabe eines ganzen Jahres hilfreich. Wenn wir diese neue Form etwa 12-16 Wochen eingeübt haben, werden wir erkennen, das es uns ein neues Bedürfnis geworden ist. Wenn wir sie 12 Monate eingeübt haben, sollte sie sich in unsern Gehirnzellen als Automatismus wiederfinden lassen.

 

Werten oder nicht-werten- was ist also die Antwort?

 

Vielleicht geht es darum, wann man wertet und wozu.

Das nicht-werten ist wie eine Übung. Das nicht gleich reagieren auf etwas, was sich uns bietet ebenso. Der „Muskel“, den wir hier betätigen nennet sich „Achtsamkeit“- erst wenn uns allmählich klar wird, was sich in dem Zeitraum zwischen Reiz und Reaktion zeigt, können wir überhaupt und sollten wir, wenn es erforderlich ist, werten. So können wir mit Tiefe, Empathie und größerer Selbstsicherheit uns vertreten, Herausforderungen begegnen und möglicherweise überrascht werden, von dem, was wir von Dingen halten.

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